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„Als gesellschaftliches Ereignis ist Corona vorbei“

Einen ganzen Packen durchaus provokanter Fragen hatte Referent Jürgen Wiebicke zur inhaltlichen Delegiertenversammlung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden mitgebracht. „Wie viel ignorieren ist legitim, ohne dass man ignorant wird“? war in der öffentlichen Veranstaltung nur eine davon.
Jürgen Wiebicke
Datum:
28. Apr. 2023
Von:
Christian Bödding

Wiebicke, 61 Jahre alter Journalist und Buchautor aus Köln, moderiert unter anderem wöchentlich das philosophische Radio auf WDR 5. Als Referent sprach er im „Logo“ in Ahaus vor gut 40 Zuhörern über Ängste, unsere Wissensgesellschaft, den Optimierungswahn, die Kirche, die Corona-Pandemie und diskutierte anschließend mit den Gästen.

"Emotionale Gleichgewichtsstörung

Er habe in den vergangenen Monaten viel darüber nachgedacht, was der Zusammenhang zwischen den vielen Krisen in der Welt und unseren Krisen sei, sagte Jürgen Wiebicke eingangs seines Vortrags. Unser derzeitiger Zustand lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „Wir leben im Moment mit einer Art emotionalen Gleichgewichtsstörung.“ Was den Glauben angehe, bezeichnete sich Wiebicke als „hybride Persönlichkeit“. „Ich glaube montags an andere Dinge als dienstags.“ Warum es Religion gebe? „Weil Menschen Angst haben und immer gehabt haben. Wir sind Wesen, die wissen, dass sie endlich sind.“ Religion sei eine mögliche Antwort auf diese Angst. Und ein „fröhlicher Atheismus“ ein Pfeifen im Walde. Wiebicke sprach Grundformen der Angst an, die der Psychoanalytiker Fritz Riemann Anfang der 60er-Jahre veröffentlichte. Die hysterische Angst: zu wenig Veränderung im Leben zu haben. Die zwanghafte Angst als Gegenteil: jede Veränderung werde vermieden und bekämpft.

Jeder Einzelne müsse sich verabschieden von der Vorstellung, alles wissen zu wollen und wissen zu müssen, erklärte Wiebicke. „Akzeptieren wir, dass wir das Wesentliche nicht wissen. Wir wissen nicht, warum sich jemand mit Corona angesteckt hat und der daneben nicht. Wir wissen nicht, warum es den einen schwer erwischt und der andere nur mal kurz hustet. Aber wir wollen so gerne wissen. Weil wir so ängstlich sind. Um unsere Haut zu retten, wollen wir der Wissenschaft vertrauen. Aber wir wissen fast nichts. Ich glaube, die wesentlichen Fragen sind ungelöst.“ Der Mensch versuche, die Welt in Zahlen zu fassen und damit Sicherheit zu finden. „Aber die Angst zu sterben bleibt.“

"Angst ist kein guter Ratgeber"

In drei Jahren Corona-Pandemie habe sich die Angst verselbstständigt, erklärte Wiebicke. „Wir alle haben dabei gelernt, dass die Angst wirklich kein guter Ratgeber ist.“ Unter Corona seien Dinge passiert, die wohl erst in 20, 30 oder 40 Jahren aufgearbeitet seien. Jürgen Wiebicke nannte ein Beispiel: „Die unglaubliche Tatsache, die systematisch beschwiegen wird: Dass wir es fertiggebracht haben, Menschen alleine sterben zu lassen.“ Es gebe pflichtschuldige Sätze, dass dies ein Fehler gewesen sei. „Aber die existenzielle Frage dahinter ist so unangenehm, dass es kracht.“ Dieses Beispiel sei ein Beleg dafür, dass eine sogenannte Wissensgesellschaft in Windeseile in der Barbarei landen könne. „Es ist doch das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann. Ihn in dieser Situation allein zu lassen.“

Corona habe auch deshalb so wirken können, weil es uns drei Jahre beschäftigt habe und nichts anderes durchgedrungen sei. „Corona hat etwas zum Ende gebracht, was schon vorher problematisch war. Corona hat gezeigt, dass eine Gesellschaft nicht beliebig optimierbar ist. Corona hat einer Gesellschaft, die auf dem Weg zum Mars ist, gezeigt, wo die Grenzen sind.“ Das Ende der Corona-Pandemie sei eine „gesellschaftliche Vereinbarung“ gewesen, erläuterte Wiebicke. Er erinnerte an eine Pressekonferenz von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Wiebicke: „Darin hat Lauterbach gesagt, dass er es unverantwortlich finde, dass Putin einen Krieg beginne. Man sei ja noch mitten in der Pandemie.“ Aus dem „mitten“ sei dann ganz schnell ein „Ende“ geworden. Jürgen Wiebickes Fazit: „Als gesellschaftliches Ereignis ist Corona vorbei.“
Wiebickes Empfehlung: „Verabschieden Sie sich vom Optimierungswahn und der Vorstellung, alles wissen zu wollen und wissen zu müssen.“ Eine bestimmte Art zu leben komme an ihr Ende, sagte er. „Eigentlich wissen wir alle, dass wir so nicht mehr weiterleben können. Trotzdem versuchen wir, so viel es geht von dem zu erhalten, was wir gewohnt sind. Weil es komfortabel ist. Wir wissen, dass das so nicht geht. Aber wir wollen es nicht wahrhaben.“

Viele Denkanstöße

Der Kirche hielt Wiebicke vor, in der Corona-Pandemie selbst zu viel Angst gehabt zu haben. „So viel Angst, dass sie die Kirchen abgesperrt haben. Und das in einer Situation, in der Menschen Antworten gesucht haben.“ Das sei mit ein Grund, warum die Kirche in dieser Situation grassierender Angst noch an Boden verloren habe. „Die Menschen haben erfahren: Wer war da, wer war nicht da.“ Seine Frage in die Runde: „Was hätte Jesus zur 3-G-Regel gesagt?“ Viele Denkanstöße gab Jürgen Wiebicke dem Publikum nach der zweistündigen Veranstaltung mit auf den Weg. Caritas-Vorstand Peter Schwack hatte im Gegenzug für den Referenten ein Präsent mit einer münsterländischen Spezialität dabei. „Sie haben nicht auf jede Frage eine klare Antwort gegeben“, sagte Peter Schwack zum Referenten. „Aber Sie haben Aspekte angesprochen, die zum Nachdenken anregen und noch nachhallen werden.“ Dies sei sehr wertvoll in dieser von Krisen geprägten Zeit.