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„Josef“:Der lange Weg nach Hause

Silke Uelsmann von unserer Gemeindecaritas las im November die Nachricht auf ihrem Handy: Ein 72-jähriger Mann aus Vreden, der mit einem Rollator unterwegs gewesen war, sei an den Folgen eines Verkehrsunfalls auf der B 70 gestorben. Silke Uelsmann wusste sofort, wer gemeint war. Sie schrieb einen Text, veröffentlichte ihn auf Facebook – und berührte damit viele Menschen. Hier sind ihre Erinnerungen an „Josef“:
Die Bank, auf der Josef sich ausruhte.
Datum:
16. Dez. 2025
Von:
Silke Uelsmann

Es muss schon einige Jahre her sein, als ich „Josef“ zum ersten Mal sah. Es war beim Aldi an der Kasse. Ich stand an der einen, er an der anderen Kasse. „Meine“ Kassiererin flüsterte ihrer Kollegin durch das Mikro zu „Pass auf, der ist ganz gewitzt, der betuppt immer.“ Ich drehte mich zur anderen Kasse um und sah ihn dort stehen. Er lächelte verschmitzt, sein Blick etwas entrückt, irgendwo weit weg an einem anderen Ort. Ich musste lächeln, weil ich sofort erkannte, dass ein Schelm in ihm steckte. 

Von da an sah ich ihn immer, überall. Mal beim Netto, mal auf der Bank unter den Bäumen gegenüber vom Netto, aber ganz besonders oft auf seinem langen Weg vom Antoniusheim in die Stadt und auch wieder zurück. Da ich in Gronau arbeite und sehr oft die B70 entlangfahre, sah ich ihn ständig und dachte immer wieder: „was für ein langer, beschwerlicher Weg!“ Im Winter bei Minusgraden, im Hochsommer bei über 30 Grad. Ich machte mir oft Sorgen, dass er den Weg heil übersteht. Und jedes Mal blieb er lange irgendwo stehen, lächelte in die Welt hinein mit seinem freundlichen, entrückten Blick in die Ferne. Man konnte sein gutmütiges Wesen förmlich spüren. 

In den letzten zwei Jahren nahm er immer die Abkürzung über den „roten Weg“ an unserem Haus vorbei und irgendwann entdeckte er unsere gemütliche Holzbank vor dem Küchenfenster. Ab dem Zeitpunkt war diese Bank seine Zwischenstation. Egal zu welcher Jahreszeit, er ruhte sich dort immer aus, bevor er den langen Weg nach Hause antrat. 

Meine Kinder hatten ihn mit der Zeit ins Herz geschlossen, wir wussten, er hat ein freundliches Wesen. Mal schlief er, mal erzählte er sich was, mal lächelte er einfach nur vor sich hin. 
Einmal, vor nicht allzu langer Zeit, kam ich ins Wohnzimmer, weil der Hund so laut und aufgeregt bellte. Und da stand er und schimpfte mit unserer Hündin Frieda. Seinen Rollator, den er seit einiger Zeit brauchte, stand gleich neben ihm. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, schob ihn ganz langsam Richtung Ausgang und erklärte ihm, dass er sich jederzeit auf unserer Bank ausruhen, aber nicht einfach so ins Haus kommen dürfe. Ganz folgsam verließ er wieder unser Haus.

Wenn die Kinder abends heimkamen und ihn im Dunkeln auf der Bank sitzen sahen, kamen sie immer lachend rein uns sagten: „Mama, wir haben mal wieder Besuch!“ Oft machte ich mir Sorgen, weil es schon so spät und dunkel war. Einmal rief ich sogar beim Antoniusheim an und fragte, ob er abgeholt werden könne. Die Betreuerin erklärte mir, dass das nicht möglich sei, da es dafür kein Personal gäbe und die BewohnerInnen vollkommen eigenständig seien. Sie freute sich jedoch sehr über meinen Anruf und bedankte sich für meine Anteilnahme. 

Nun lese ich heute Abend im Internet, dass ein 72jähriger Vredener an den Folgen eines Verkehrsunfalls verstorben sei. Er sei am Abend zuvor mit seinem Rollator auf der B70 in Höhe einer Hofeinfahrt unterwegs gewesen und dort von einem Auto erfasst worden. Mein Herz wurde schwer, ich ahnte, dass es sich um unseren lieben Bankliebhaber handelt. Ich fragte nach und die Antwort machte mich unendlich traurig. Erst jetzt durfte ich erfahren, dass er Josef hieß. 

Meine Tochter weinte bitterlich. „Das hat er nicht verdient. Er war so lieb!“ Ja, das war er. Und vermutlich auch sehr einsam. Ich frage mich: „Gibt es Menschen, denen er wichtig war? Hatte er Angehörige?“ 

Noch vor 5 Tagen saß er im Dunkeln auf unserer Bank, als wir mit unserem Anhänger nach Hause kamen. Er machte mich darauf aufmerksam, dass wir kein Licht hätten. (Ich hatte soeben den Stecker gezogen ) Ich sagte nur schelmisch: „Na da haben wir aber Glück, dass uns die Polizei nicht erwischt hat.“ Er lachte so laut und herzlich, dass wir sofort mitlachen mussten. Ich sagte ihm dann noch, dass er sich doch langsam auf den Weg machen müsse, denn es sei schon so dunkel und sein Weg noch so lang. Daraufhin stand er mit einem Seufzer auf, nahm seinen Rollator und ging mit langsamen Schritten den roten Weg entlang.
Das war das letzte Mal, dass wir ihn sahen. 

Lieber Josef, wo auch immer Du nun bist, möge es Dir dort gut gehen. Mögest Du auch dort Dein verschmitztes, schelmisches Lächeln nicht verlieren. Wir werden Dich sehr vermissen. Und jedes Mal, wenn wir unsere Bank anschauen, werden wir an Dich denken und sicher noch sehr oft mit einem Lächeln von Dir erzählen. Mach es gut!