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Schuldnerberatung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden blickt auf 2023:Fallzahlen kennen nur eine Richtung: nach oben

Immer mehr Menschen im Kreis Borken benötigen Hilfe wegen drohender Insolvenz. Die Schuldnerberatung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden verzeichnete auch 2023 einen drastischen Anstieg beim Beratungsbedarf. Die Fallzahlen kennen seit einigen Jahren nur eine Richtung: nach oben. Andreas Dawo, Leiter der Schuldnerberatung, sieht nichts, was 2024 für sinkende Zahlen sorgen könnte.
Andreas Dawo, Leiter der Schuldnerberatung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden.
Datum:
19. Dez. 2023
Von:
Christian Bödding

Aktuell betreut die Schuldnerberatung rund 1000 Mandanten, zumeist Familien. „So viele wie niemals zuvor“, berichtet Dawo. Es vergehe kein Tag, ohne dass es weitere Neuanfragen für die Beratung gebe. „Meist sind es fünf bis sechs pro Tag.“ Wie in den Vorjahren ist auch im Jahr 2023 die Zahl der Mandanten nochmal deutlich gestiegen.

Die Ratsuchenden erhalten in den meisten Fällen bis zu 24 Monate Unterstützung bei der Regulierung ihrer finanziellen Angelegenheiten. „Die Zeitspanne kann aber je nach Art der erfolgreichen Lösung auch kürzer oder länger sein“, erläutert Andreas Dawo. Durch die Nutzung einer neuen Software für die Schuldnerberatung konnte die Digitalisierung des gesamten Schriftverkehrs beschleunigt werden. „Die Schreiben sind sofort beim Empfänger, zum Beispiel bei Gläubigern, Anwälten, Inkassobüros. Viele antworten auch digital. Das beschleunigt das Verfahren.“ Nur noch rund zehn Prozent aller Schreiben müssen klassisch per Post verschickt werden.
Was die Digitalisierung auf der einen Seite beschleunigt, wird auf der anderen Seite durch fehlende finanzielle Mittel für Personal wieder ausgebremst. Für 2023 gab es aus dem Stärkungspakt NRW zusätzliche Mittel. Damit war es möglich, ab Mai dieses Jahres Stellenanteile in der Schuldnerberatung befristet bis 31. Dezember 2023 leicht zu erhöhen. Andreas Dawo: „Leider müssen wir ab dem 1. Januar 2024 trotz wesentlich höherer Mandantenzahlen wieder mit der reduzierten Anzahl an Beratern weiterarbeiten.“ 

Immer häufiger stellt die Schuldnerberatung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden Bescheinigungen für Pfändungsschutzkonten aus, um das Existenzminimum der Bürger zu schützen. Eine Aufgabe, die den Schuldnerberatungsstellen zusätzlich übertragen wurde, ohne dass es dafür eine Refinanzierung gibt. „Zehn und mehr solcher Bescheinigungen pro Woche sind keine Seltenheit“, erläutert Andreas Dawo. Er geht davon aus, dass sich 2024 längere Wartezeiten nicht vermeiden lassen und auch die telefonische Erreichbarkeit deutlich erschwert sein werde. „Wir werden nur wenige Neufälle zusätzlich aufnehmen können, um die gesetzlichen Fristen in der Beratung weiter einhalten zu können.“ So ist zum Beispiel geregelt, dass ein Vergleichsvorschlag nicht älter als sechs Monate sein darf. Zumeist seien auch Schreiben von Gerichten oder Staatsanwaltschaften mit Fristen verbunden. „Da können wir nicht bis zum St. Nimmerleinstag warten.“ 

Die Verkürzung des Verfahrens der Restschuldbefreiung von sechs auf drei Jahre (seit Ende 2020) hat dazu geführt, dass viel mehr Ratsuchende als früher in die Beratung kommen. Dieser Weg bleibt immer dann, wenn es keine Möglichkeiten gibt, sich mit den Gläubigern auf einen Vergleich zu einigen. In finanzielle Bedrängnis geraten sind die Betroffenen oftmals durch die Auswirkungen der Inflation. Andreas Dawo: „Für Strom, Gas, Benzin und Lebensmittel zahlen die Leute heute deutlich mehr, als sie 2020/2021 bezahlt haben. Die Löhne und Gehälter sind nicht entsprechend gestiegen und unsere Mandanten haben keine Chance, gegen die Inflation anzukommen. Oft brauchen sie ein Fahrzeug, um zur Arbeit zu kommen. Sie haben meistens kein Niedrigenergiehaus, sondern einfache Wohnungen. Und Einkaufen müssen sie auch.“ 

Junge Familien mit kleinen Kindern kämen schnell in finanzielle Nöte. „Erst wird drei- oder viermal der Kredit bei der Bank aufgestockt, dann bekommt man die monatliche Rate nicht mehr hin.“ Dann führt der Weg zur Schuldnerberatung. Zu Andreas Dawo und seinem Team kommen Handwerker ebenso wie Angestellte, Beamte und Selbstständige. „Wer mit dem Geld nicht so gut klarkommt, kommt irgendwann hierher.“ Die Ratsuchenden sind zwischen 18 und 88 Jahre alt. Mal ist es ein Bürgergeldempfänger, mal ein Arbeiter mit einem Bruttogehalt von 3000 Euro, mal ein Angestellter mit einem Einkommen von fast 9000 Euro brutto, der seine Konsumentenkredite nicht zurückzahlen kann.

Wesentlich häufiger als früher kommen Mandanten mit einer gescheiterten Selbstständigkeit in die Beratung. „Personen, die zum Beispiel allein oder mit einer weiteren Person einen Dönerladen, einen Kosmetiksalon oder ein Tätowier- oder Piercingstudio betrieben haben.“ Über nicht bezahlte Sozialabgaben und Steuern und das Fehlen von finanziellen Reserven kämen schnell Rückstände in Höhe von mehreren zehntausend Euro zusammen – und damit die Probleme. Andreas Dawo berichtet über Fälle von selbstständigen Handwerkern, deren Rechnungen nicht bezahlt wurden und die deshalb den finanziellen Kollaps erlitten. Und er berichtet von selbstständigen Handwerkern, die zwar gute Arbeit machen, aber kaufmännisch nicht so bewandert sind. „Irgendwann hört dann auch deren Steuerberater auf, weil er selber kein Geld bekommt.“ Wenn dann das Finanzamt mit der Schätzung beginne, gehe es mit den finanziellen Schwierigkeiten richtig los.

Breiten Raum nimmt in den Erstgesprächen die Prüfung der Sicherung des Existenzminimums und die Beratung zu weitergehenden Anträgen wie Wohngeld-Plus, Kinderzuschlag und Aufstockendes Bürgergeld ein. „Deutschland ist ein klassisches Antragsland“, sagt Andreas Dawo. „In Deutschland bekommt man nur dann etwas, wenn man die Anträge vernünftig hinbekommt.“ Zudem sei im immer dichter werdenden Behördendschungel das Antragsverfahren insgesamt relativ kompliziert. Dafür sei es viel zu einfach, in Deutschland einen Kredit zu bekommen. 

„Die Geldinstitute sind zu großzügig“, sagt Andreas Dawo. Auch die Möglichkeit, Einkäufe im Internet über Zahlungssysteme per Ratenzahlung zu begleichen, erhöhe das Risiko einer Überschuldung. „Da wird dann so viel gekauft, dass man irgendwann den Überblick über seine finanzielle Lage verliert – und welches Zahlungssystem gerade welche Rate abbucht.“ Dawo berichtet von einer Schulden-Challenge im Internet. Auf der Social-Media-Plattform TikTok liefern sich unter dem Hashtag #klarnaschulden Nutzer einen regelrechten Wettbewerb über die Höhe ihrer Schulden bei dem Zahlungsanbieter. Bei der Schuldnerberatung in Ahaus werden Menschen vorstellig, die im Schnitt 40.000 Euro Schulden angehäuft haben. „Mal kommt jemand mit einem Minus von 1500 Euro, mal mit Schulden von einer Million.“ Jeder Fall ein Einzelfall, jeder Fall ein Schicksal, aktuell rund 1000 – betreut und begleitet von einem Team mit weniger als fünf Vollzeitstellen. „Da hat schon jeder Arbeit“, sagt Andreas Dawo. Sie wird nicht weniger.


Info: Die Schuldnerberatungsstelle des Caritasverbandes Ahaus-Vreden ist überwiegend im Altkreis Ahaus und im Bereich Borken tätig.