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„Hier sind die Menschen glücklich. In der Ukraine nicht.“

Manchmal sind die Unterschiede klein, manchmal riesengroß. Der größte Unterschied zwischen Deutschland und der Ukraine? Für die Antwort muss Nina Vasylieva nicht lange nachdenken. „Hier sind die Menschen glücklich. In der Ukraine nicht.“ Die Ukraine, die Stadt Poltawa – das war bis zum Frühjahr 2022 die Heimat der 37-Jährigen und ihrer Familie. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem 41-jährigern Mann und ihrem sechs Jahre alten Sohn in Südlohn-Oeding.
Sebastian Stödtke vom Henricus-Stift in Südlohn und Nina Vasylieva. Die Ukrainerin arbeitet in der Einrichtung als Pflegehelferin – und wartet auf ihre Anerkennung als Kinderärztin.
Datum:
28. Apr. 2023
Von:
Christian Bödding

Nur glücklich sein, das reicht auch in Deutschland nicht zum Leben. Nur zu gerne würde die 37-Jährige in ihrem in der Ukraine ausgeübten Beruf arbeiten. Also: Ankommen und gleich als Kinderärztin weiterarbeiten? So einfach ist das nicht. Nina Vasylieva erzählt, dass sie zuletzt in einer Klinik in der Neonatologie tätig war. Spezialisiert auf die Behandlung Frühgeborener und kranker Neugeborener.

In Deutschland muss sich die Ukrainerin ihr Ärzte-Diplom anerkennen lassen. Im Zuge dieses Verfahrens wird das Diplom von der zuständigen Landesärztekammer auf seine Gleichwertigkeit – verglichen mit der deutschen Approbation – geprüft. Nina Vasylieva benötigt zur Anerkennung ihres Medizinstudiums zudem wenigstens ein Sprachzertifikat auf dem Niveau B2. Am 26. Juni steht ihre entsprechende Prüfung beim Goethe-Institut in Düsseldorf an. Auf die leichte Schulter nimmt sie den Termin nicht. Denn es steht nicht im Vordergrund, ob die richtige Diagnose gestellt wurde, sondern ob sie sich auf Deutsch verständlich gegenüber dem Patienten und den Kollegen ausdrücken kann und ob sie die andere Seite richtig versteht. Beim Umgang mit Eltern von Frühgeboren und im Umgang mit deren Ängsten und Sorgen spielt die Sprache eine große Rolle.

Spracherwerb

„Ich weiß, was mir an Sprache fehlt“, sagt Nina Vasylieva. „Ich muss fleißig weiter Deutsch lernen. Ich habe nicht genug Sprachkenntnisse.“ Eine große Möglichkeit zum Spracherwerb, auch mit Blick auf Fachbegriffe, bietet ihr derzeit das Henricus-Stift in Südlohn. In der Einrichtung des Caritasverbandes Ahaus-Vreden arbeitet die Ukrainerin seit dem 1. April. „Allerdings können wir sie aufgrund fehlender Nachweise nur als Pflegehelferin beschäftigen“, berichtet Einrichtungsleiter Sebastian Stödtke. Die Ukrainerin übernimmt Aufgaben der Grundpflege und der Betreuung, „alles, was den Pflegealltag abbildet“, erläutert Sebastian Stödtke. 

Die 37-Jährige komme sehr gut im Team und bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Senioreneinrichtung an. Dank ihrer Hilfe sei die Kommunikation mit einem ukrainischen Bewohner deutlich einfacher geworden. „Wir wissen, dass sie auf Zeit hier ist“, sagt Sebastian Stödtke. Sollte Nina Vasylieva ihre Zulassung als Kinderärztin bekommen, werde sie voraussichtlich in einer Klinik in Coesfeld arbeiten. „Dann lassen wir sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge ziehen.“ Deutschland brauche Fachkräfte, sagt der Einrichtungsleiter. Bis sämtliche Unterlagen geprüft sind und das Anerkennungsverfahren abgeschlossen ist, wird es sicherlich noch ein dreiviertel Jahr dauern. „Wir bieten ihr die Möglichkeit, hier weiter an ihrer Sprache zu feilen. Nina hat sich schon ein plattdeutsches Buch gekauft. Der Wille ist da.“

Angst vor russischen Soldaten

Arbeiten, lesen, ein ruhiges Familienleben – das war nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine, nicht mehr möglich in Poltawa. Nina Vasylieva wurde bei jedem Sirenenalarm zermürbt zwischen ihren 24-Stunden-Diensten als Ärztin und der Sorge um ihren Mann und den sechsjährigen Sohn. In der 330.000 Einwohner zählenden Stadt Poltawa, gelegen in der Zentralukraine, gut 350 Kilometer südöstlich von Kiew, wollte sie aus Angst vor den russischen Soldaten nicht mehr bleiben. Über eine Facebook-Gruppe stellte sie Kontakt zu deutschen Helfern her. Mitte März vergangenen Jahres setzte sie sich mit ihrem Sohn in einen Bus und fuhr nach Krakau (Polen). Von dort ging es per Auto weiter nach Köln, dann zu einer Familie nach Südlohn. Ihr 41 Jahre alter Ehemann kam am 1. Dezember vergangenen Jahres zu ihr nach Deutschland. Der gelernte Trockenbauer arbeitet bei einer Firma in Südlohn. 

Mittlerweile wohnt die Familie in Oeding. Sebastian Stödtke traf bei einem Ukraine-Treffen in Südlohn auf Nina Vasylieva. „Wir haben privat auch Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen“, berichtet der Leiter des Henricus-Stifts. Stödtke erfuhr von der beruflichen Qualifikation der Ukrainerin und bot ihr eine berufliche Startmöglichkeit im Seniorenheim. Auch wenn sie nicht als Ärztin bezahlt wird, so freut sich Nina Vasilyeva doch sehr über den Verdienst im Seniorenheim.  

Nina Vasilyeva möchte in Deutschland bleiben, auch wegen der Lebensqualität, die hier deutlich höher sei als in der Ukraine. „Hier ist alles gut. Aber auch langsam. Einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung zu bekommen, das hat im Vergleich zur Ukraine lange gedauert.“ Auch Termine beim Arzt seien hier vergleichsweise schwer zu erhalten. „Es sei denn, es handelt sich um einen Notfall.“