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Vera Reimer berichtet über ihre Arbeit als zertifizierte Kinderschutzfachkraft:Hilfe statt Schuldzuweisungen

Lehrer und Erzieher sind meist die ersten, denen es auffällt: Sie kommen täglich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt – und haben das Gefühl es könnte einem ihrer Schützlinge nicht gut gehen.
Vera Reimer ist zertifizierte Kinderschutzfachkraft.
Datum:
21. Feb. 2023
Von:
Christian Bödding

Sie befürchten eine Kindeswohlgefährdung. Lehrer, Erzieher, Hebammen und Ärzte sind sogenannte Berufsgeheimnisträger. Wenn sie solche Beobachtungen machen, sind sie verpflichtet, ihnen nachzugehen, mit ihren Teams und Leitungen zu sprechen und Fachberatung in Anspruch zu nehmen. Eine solche Ansprechperson und Fachberaterin ist Vera Reimer. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin und Zertifizierte Kinderschutzfachkraft (ISA) beim Caritasverband Ahaus-Vreden.

„Kinderschutz wird dann in Frage gestellt, wenn jemand den Eindruck gewinnt, dass es einem Kind nicht gut geht. Es wird schlecht behandelt oder es hat nicht die Bedingungen, die man braucht, um gesund aufzuwachsen“, erläutert Vera Reimer. Wer täglich mit Kindern und Jugendlichen arbeite, dem kämen dann viele Fragen in den Sinn: Kann ich auf mein Bauchgefühl vertrauen? Wen kann ich um Rat fragen? Wo muss ich was melden? Diese und weitere Fragen werden von Vera Reimer und ihren Kolleginnen vom Caritasverband Ahaus-Vreden beantwortet. Ihr Beratungsgebiet erstreckt sich über den Norden des Kreises Borken.

Dass es dem Kind oder Jugendlichen nicht gut geht, das kann zum Beispiel in der Kita, in der Schule oder dem Arzt bei einer Untersuchung auffallen. „Vielleicht auch einer Nachbarin oder einem Freund, die etwas bemerken und die sich denken: Irgendetwas stimmt da nicht.“ Berufsgeheimnisträger müssen sich aufgrund ihrer beruflichen Rolle und Verantwortung an Kinderschutzfachkräfte werden; an sogenannte Insoweit erfahrene Fachkräfte. Alle, die hauptberuflich oder ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, können sich beraten lassen.

Personen sensibilisieren

Vera Reimer verfügt als Kinderschutzfachkraft über eine spezielle Schulung und absolvierte eine berufsbegleitende eineinhalbjährige Fortbildung zum Thema Gefährdungseinschätzung. Ihre Arbeit ist angegliedert an die Jugendhilfe. „Kindeswohlgefährdung läuft eher im Dunkeln, im Verdeckten ab“, erklärt sie. Umso wichtiger sei es, Personen, die tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen zusammen sind, zu sensibilisieren. „Denn nicht selten gehört zu einer Kindeswohlgefährdung dazu, dass diese aus Unsicherheit aller Betroffener längere Zeit nicht benannt wird. Das Kind kann oder möchte sich nicht offenbaren, weil es sich loyal gegenüber der Person verhält, die ihm nicht guttut. Das Kind weiß nicht, wie und wem es etwas erzählen soll, es hat Angst, dass ihm nicht geglaubt wird.“ 

Fachpersonen möchten niemandem unrecht tun und nichts falsch machen. Auch Scham und viele weitere Gründe spielen eine Rolle. Es gebe eine Bandbreite von Verdachtsmomenten, erläutert Vera Reimer. „Von komischen Gefühlen bis zu Indikatoren.“ Letztere seien zum Beispiel blaue Flecken. „Mal fällt einem Lehrer oder Erzieher auf, dass ein Kind in einem schlechten Ernährungs- oder Hygienezustand ist. Dass ein Kind plötzlich nicht mehr in die Schule oder den Kindergarten kommt oder dass es sich selbst überlassen bleibt.“ Es könne auch sein, dass ein Kind häufig traurig sei oder sich zurückziehe. Dabei betrifft die Kindeswohlgefährdung nicht nur kleine Kinder, sondern auch Jugendliche. „Jugendliche können in ihrer Entwicklung massiv gefährdet sein“, erklärt Vera Reimer. Das müsse sich nicht unbedingt auf der körperlichen Ebene abspielen. „Jugendliche können zum Beispiel seelisch schlecht behandelt werden, wenn sie keine sozialen Kontakte haben dürfen.“

Offen reden

Zur Kinderschutzfachberatung gehört, dass Vera Reimer das Thema mit den Fachpersonen bespricht und diese darin schult, mit den Eltern offen zu reden. Wertschätzend, klar und konfrontativ. „Es wird dabei nicht um den heißen Brei herumgeredet.“ Die Eltern hätten das Recht, zu jedem Zeitpunkt über alles, was ihr Kind betreffe, informiert zu werden. „Aber sie haben auch die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihr Kind gesund aufwächst.“ Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass alle Eltern dies für ihre Kinder wollen, sagt Vera Reimer. „Aber es gibt immer wieder Lebensbedingungen, die es für manche Familien schwierig machen.“ Durch diese negativen Einflüsse werde ein Prozess in Gang gesetzt, den die Familie alleine nicht abwenden könne. Dabei betont sie, dass Kindeswohlgefährdung meist die Folge von Überlastung und Überforderung ist, und betroffene Familie nicht Schuldzuweisungen, sondern Hilfe benötigen. Vera Reimer bewertet und schätzt gemeinsam mit den Fachleuten und Privatpersonen, die sie berät, ein: „Wo sind Risikofaktoren? Wo sind Schutzfaktoren?“ Wer kann was wie und wann tun, um eine positive Entwicklung anzustoßen? Wer muss was wem und wann mitteilen oder melden?

Die Beratungsanfragen hätten in den vergangenen gut drei Jahren stark zugenommen, berichtet Vera Reimer. Zwischen 30 und 40 Fachberatungen nahm sie mit ihren beiden Kolleginnen im Jahr 2021 vor. Die Zahlen gingen hoch, als der Lockdown vorbei war und sich die Lage ein wenig entspannte. „Erst da sind die Gefährdungen wieder offenbar geworden, Lehrer und Erzieher hatten nach den Schulschließungen wieder den Blick auf die Kinder. “Für eine Gefährdungseinschätzung fährt Vera Reimer zum Beispiel in die Schule oder Kita und lässt sich schildern, was der Grund der Sorge ist. „Oft ist dort schon im Team darüber gesprochen worden, was die Eltern leisten können und was nicht.“ Bei der Beurteilung der Lage muss Vera Reimer gewichten: Wie schlimm ist etwas? Und: Ist zu erwarten – wenn niemand handelt – dass die gesunde Entwicklung des Kindes gefährdet ist? „Wenn ja, besteht Handlungsbedarf.“  

Es gelte auch die Frage zu beantworten, ob die Sorgeberechtigten in der Lage seien, die Gefährdung abzuwenden. „Wollen und können sie sich darum kümmern?“ Meist bewege sich das Geschehen in einer Grauzone. Die betroffene Familie bedürfe der Beratung und Begleitung. Wobei die Beratung in Schule und der Kita immer anonym erfolgt. „Dabei unterliegt die Kinderschutzfachkraft der Schweigepflicht, die Beratung ist absolut vertraulich. Sie weiß nicht, um welches Kind es geht.“ Was Vera Reimer aber weiß: „Es geht darum, Handlungssicherheit und Klarheit zu schaffen: Sind die Sorgen begründet?“ Am besten ist, sie sind es nicht.


Kontakt: Vera Reimer, Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern, Wüllener Straße 80, 48683 Ahaus, Tel. 02561/4291-0 (Mo, Di, Do ganztägig, Mi vormittags), Mail: v.reimer@caritas-ahaus-vreden.de