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Einblicke in den Arbeitsalltag beim Caritasverband Ahaus-Vreden (VII) :„Verliere nie den Glauben an dich selbst“

Lesen Sie hier das Interview mit Vera Reimer (61) aus Nordwalde. Aktuell – und noch bis zum 1. Juli 2025 – leitet Sie kommissarisch die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Caritasverbandes Ahaus-Vreden.
Vera Reimer
Datum:
30. Mai 2025
Von:
Christian Bödding

Seit wann arbeiten Sie beim Caritasverband? 
Vera Reimer: Seit dem 1. August 1990 und immer noch total gerne. Das werden in diesem Jahr tatsächlich schon 35 Jahre. 

Sie gehen immer noch jeden Tag mit Begeisterung zur Arbeit? 
Klar, gibt es auch mal Tage, wo man denkt, warum tue ich mir das eigentlich alles an? Es macht nicht immer alles gleich viel Spaß. Aber was ich wirklich als Geschenk empfinde, ist, dass ich einen Beruf ergriffen habe, über den ich heute noch sagen kann, das ist genau mein Ding. Das ist wunderbar. Ich bin dem nicht überdrüssig, ich habe immer noch Freude daran. Ich mache das immer noch gerne und das ist klasse. 

Wo hat Ihre berufliche Reise begonnen? 
Nach meinem Sozialpädagogikstudium habe ich mein Anerkennungsjahr in der Erziehungsberatung bei der Caritas in Essen gemacht. Danach ging es für meine erste Stelle nach Düsseldorf, zum SKFM – dort sind SKF und SKM zusammengeführt – in eine Kinderschutzeinrichtung, einem stationären Dienst.

Ursprünglich stammen Sie aber nicht aus dem Münsterland?
Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Trier. Abi in Trier, Studium dann in Düsseldorf – und gegen Ende meines Studiums habe ich meinen heutigen Mann kennengelernt, der aus Bielefeld kommt. Als die Beziehung fester wurde, haben wir gemeinsam geschaut, wo wir leben könnten. So bin ich ins Münsterland „eingewandert“. Ich habe damals eine Weiterbildung gemacht, bei der mir eine Teilnehmerin erzählte, in Ahaus würde bald eine Stelle frei. Ich habe mich beworben – und sie bekommen.

Was war das für eine Stelle? 
Eine Sozialpädagogenstelle in der Erziehungsberatungsstelle in Ahaus. Damals waren wir zu dritt: der damalige Leiter, eine Kollegin, die inzwischen im Ruhestand ist, und ich. Eine Motopädin war mit ganz wenigen Stunden dabei – das war unser kleines Team.

Das klingt nach Pionierarbeit …
Die Beratungsstelle war schon etabliert, aber meine Aufgabe war neu: Ich wurde gezielt für die Arbeit mit Jugendlichen eingestellt, das gab es so vorher noch nicht. Die Beratung fokussierte sich bislang eher auf kleinere Kinder und Familien. Ich durfte dann Stück für Stück die jugendspezifische Arbeit aufbauen – Gruppenangebote, geschlechtsspezifische Formate ab elf, zwölf Jahren. Ich übernahm die Mädchenarbeit, ein Kollege die Jungen. Das war so Ende der 90er.

Erinnern Sie sich noch an Ihren allerersten Fall?
Mein erster Fall war eine schon etwas ältere Dame mit zwei erwachsenen Söhnen – einer adoptiert, einer leiblich. Es ging um Hofübernahme, Erbstreitigkeiten, große familiäre Spannungen und die Kommunikation untereinander. Ich war 27, hatte keine Ahnung von plattdeutschem Dialekt und verstand gefühlt nur die Hälfte. Das war so ein bisschen der Sprung ins kalte Wasser. Aber: Man wächst ja an seinen Aufgaben.

War das Münsterland direkt ein Ort zum Wohlfühlen für Sie?
Ehrlich gesagt, nicht sofort. Die Münsterländer werden ja als verschlossen und dröge dargestellt. Ich hatte für meine Studienzeit ein paar Jahre im Rheinland verbracht. Die Leute sind da relativ offen. Ich dachte anfangs wirklich, das wird nix mit mir und dem Münsterland. Aber dann gründet man eine Familie, lernt Leute kennen, findet Freunde – und irgendwann merkt man: Ich bin angekommen. Heute fühle ich mich hier sehr wohl.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag heute aus?
Seit August 2024 leite ich die Beratungsstelle, kommissarisch bis zum 1. Juli 2025. Dadurch bin ich nur noch mit 25 Prozent in der Fallarbeit. Ein Großteil dieser Zeit entfällt auf Kinderschutzfälle – da bin ich eine von zwei Fachkräften im Verband. Und da hat die Zahl der Anfragen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Ansonsten arbeite ich nach wie vor auch mit Jugendlichen und Familien – allerdings deutlich reduziert. Der größere Teil meines Jobs ist mittlerweile die Leitungsaufgabe: ein großes, starkes Team mit hoher Fachlichkeit führen, Kooperationspartner im Blick behalten, ein Sekretariat mit vier Personen, zwei Standorte, drei Jugendämter, eine neu besetzte spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt. Da können Sie sich vorstellen, dass die Tage da auch manchmal turbulent sind. Es ist viel, aber es macht mir auch große Freude.

Warum haben Sie sich damals überhaupt für den sozialen Bereich entschieden?
Mein Hauptinteresse galt dem sozialen Bereich – und der Medizin. Ich habe mich damals tatsächlich für beide Studiengänge beworben: für Sozialpädagogik und fürs Medizinstudium.  Für Medizin hätte ich drei Semester warten müssen – das war mir mit 18 zu lang. Also habe ich Sozialpädagogik studiert. Aber ich fand immer beide Bereiche sehr spannend. 

Hat Ihr Elternhaus diesen Weg beeinflusst?
Nein. Mein Vater war Bauunternehmer. Uns Kindern stand völlig frei, für welchen Beruf wir uns entscheiden. Ich wurde geprägt von: Man ist fleißig, man hat viel zu tun. Ich habe mich dann in der Sozialpädagogik wiedergefunden, später eine Kinder- und Jugendtherapie-Ausbildung gemacht und wusste: Das ist genau mein Ding. 

Was lieben Sie an Ihrer Arbeit besonders? 
Dass sie jeden Tag spannend ist, sie wird nie langweilig. Man hat vielseitige und vielfältige Aufgaben und einen relativ großen Gestaltungsspielraum. Jeder im Team arbeitet auch ein bisschen anders. Auch wenn viele ähnliche Ausbildungen oder Therapie-Ausbildungen haben, es fließt doch immer auch ein bisschen Persönlichkeit mit in die Arbeit ein und das finde ich toll. Der Caritasverband macht keine starren Vorgaben, wer was wann wie zu tun hat. Das macht so ein Team auch lebendig und prägt die Beratungsstelle. Ich habe es immer sehr geschätzt, dass ich Familie und Beruf vereinbaren konnte. Natürlich gibt es feste Arbeitszeiten, aber es war immer möglich, zum Beispiel zur Theateraufführung meines Kindes zu gehen – und dafür Termine flexibel zu handhaben. Das habe ich sehr geschätzt in all den Jahren. 

Wie gelingt Ihnen der Ausgleich nach der Arbeit? 
Schwierige Frage. Ich bin eher ein Power-Mensch. Also ich bin nicht die Person, die immer tiefenentspannt durch den Tag marschiert, auch wenn das nach außen hin oft so wirkt. Ich bekomme oft die Rückmeldung, ich sei so souverän; innerlich bin ich das nicht immer. Ich glaube, man entwickelt im Laufe der Zeit und der Berufserfahrung eine Routine. Je älter man wird, desto besser kommt man damit zurecht, Dinge gut trennen zu können. Natürlich gibt es Fälle, die einen mitnehmen, gerade im Kinderschutz oder bei belasteten Familien. Aber man hat Strategien gelernt und entwickelt, damit umzugehen. Sonst würde man ja gar keine Ruhe mehr finden. Ich bin ein absoluter Familienmensch. Ich liebe die Natur. Ich gehe gerne spazieren, fahre Rad, mache Nordic Walking. Ich bin auch sehr kommunikativ. Treffen mit Freunden, Zeit mit meinem Mann, das ist für mich wichtig.

Was hat Sie damals zur Bewerbung hier bewegt? 
Ich wollte zielgerichtet in die Erziehungsberatung. Aber damals war der Stellenmarkt dicht. Man schrieb 50 Bewerbungen – und bekam 48 Absagen zurück. Heute haben die jungen Leute das Glück, sich ihre Stellen aussuchen zu können. Das war bei uns damals genau umgekehrt, vor 35 Jahren. Ich wollte beruflich in die Erziehungsberatung und privat mit meinem Mann zusammenziehen. Ahaus war der Schnittpunkt. 

Würden Sie den Weg wieder so gehen? 
Ja, das kann ich uneingeschränkt sagen. Natürlich ist nicht immer alles super. Das wäre ja auch Märchen und nicht Wirklichkeit. Die Vorteile überwiegen für mich aber deutlich. Ich habe einen Arbeitgeber, hinter dem ich stehen kann. Ich erlebe gerade jetzt in meiner Rolle als Leitung sehr viel Rückhalt, auch Freiheit, was ich sehr wertvoll finde. Ich habe den Eindruck, dass es einen guten Vertrauensvorschuss gibt, ich habe einen Vorstand, der Argumenten zugänglich ist, der mir auch den Rücken stärkt, wenn das mal erforderlich ist und mir die Freiheit überlässt in dem Vertrauen, dass ich verantwortlich mit den Dingen umgehe.  

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen? 
Die erlebe ich als sehr gut. Ich darf in einem Team tätig sein, in dem Kolleginnen und Kollegen arbeiten, die ich menschlich und professionell sehr schätze. Wir sind alle sehr gut ausgebildet. Wir haben ein gutes Betriebsklima. Ich fahre 45 Minuten zur Arbeit und abends wieder retour. Wenn man sich bewusst entscheidet, irgendwo zu bleiben, ist das immer auch ein Stück weit der Teamkultur geschuldet. Man sagt sich: Ich fühle mich hier wohl, ich habe keinen Drang wegzugehen. Und wo würde ich mich wirklich verbessern?

Wie sieht es mit Fort- und Weiterbildungen aus? 
Der Caritasverband Ahaus-Vreden setzt Weiterbildungen als ganz selbstverständlich voraus. Ich habe meine Therapieausbildung zu einer Zeit gemacht, als man sie noch selbst bezahlen musste. Heutzutage werden sie vom Arbeitgeber übernommen. Jedem Mitarbeitenden stehen fünf Fortbildungstage pro Jahr zur Verfügung. Dabei kann es dann zum Beispiel um Fortbildungen im Bereich Trennung, Scheidung, selbstverletzendem Verhalten, Resilienz oder Teamführung gehen.

Gibt es Fälle, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ich habe in meinem Leben schon ganz viel Glück gehabt, aber natürlich auch Krisen erlebt. Eine davon war zum Beispiel, dass ich sehr früh meine Eltern durch Unfalltod verloren habe. Da war ich 32. Ein Fall ist mir ganz besonders in Erinnerung. Ein Mädchen hatte ihre Eltern verloren. Sie sagte mir einmal, sie finde es fast unheimlich, wie gut ich sie verstehe. Ich habe ihr nie gesagt warum.

Wenn Sie Ihrem früheren Ich einen Rat geben könnten – welchen?
Verliere nie den Glauben an dich selbst und bleibe zuversichtlich, das schaffst du. Und ich würde auch raten: Es muss nicht immer alles perfekt sein, es muss nicht immer alles sofort sein. Der Anspruch muss nicht 100 Prozent sein. Manchmal reichen vielleicht auch 90 Prozent. Das ist der Part, der mir manchmal eher schwerfällt. Der jungen Vera Reimer würde ich sagen: Es ist super, wie du das machst, aber erlaube dir auch mal Pausen. Perfektion ist nicht alles.

Zum Schluss: Drei Worte, die Ihre Arbeit beschreiben? 
Spannend. Vielseitig. Anstrengend. Das würde ich mal ganz spontan so sagen.