Zum Inhalt springen

Wie Maria Südholt aus Stadtlohn mit „Meryems Erinnerungsbuch“ Demenzkranken ohne Deutschkenntnisse hilft:Wenn Erinnerungen sprechen

Was bleibt, wenn die Sprache schwindet? Wenn Erinnerungen verblassen? Für viele Menschen mit Demenz ist das die tägliche Realität – und für jene, die kein Deutsch sprechen, ist diese Realität hierzulande oft noch stiller, einsamer. Genau hier setzt Maria Südholt an. Mit 62 Jahren, mitten in ihrer Ausbildung zur Pflegefachassistentin, hat die Stadtlohnerin etwas entwickelt, das Demenzkranken hilft: ein interaktives Buch, das Erinnerungen weckt – in der Muttersprache.
Maria Südholt hat mit ihrem Erinnerungsbuch einen Wettbewerb der Deutschen Alzheimer Gesellschaft gewonnen.
Datum:
11. Juli 2025
Von:
Christian Bödding

Der Gedanke dahinter: Wie spricht man mit einer dementen Seniorin, die nur Türkisch versteht – wenn man selbst nur Deutsch kann? Für Maria Südholt war die Antwort klar: durch Bilder, Gefühle – und eine Stimme, die vertraut klingt. 

Angefangen hat alles recht unspektakulär. „Wir hatten im Unterricht das Thema Demenz“, erzählt die 62-Jährige. Aktuell besucht sie das Caritas Bildungszentrum in Ahaus-Wessum, eine Pflegeschule. „Unsere Lehrerin, Frau Büsken, fragte uns, ob wir Ideen oder Wünsche hätten. Eine Kollegin hatte auf Instagram gesehen, dass die Deutsche Alzheimer Gesellschaft einen Wettbewerb für innovative Projekte ausgeschrieben hatte. Erst haben wir gezögert – wir, in der Ausbildung, was können wir da schon beitragen?“ Doch die Idee ließ die Stadtlohnerin nicht mehr los. In ihrem Umfeld kennt sie viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund. „Gerade die, die in den 60ern und 70ern als Gastarbeiter kamen. Viele sprechen kaum Deutsch – und im Alter wird das oft noch weniger.“

Und dann kam der Moment, in dem sich alles zusammenfügte. „Ich habe gedacht: Ein Buch, das Geschichten erzählt – auf Türkisch, mit Fotos aus dem Leben, zum Anfassen, zum Wiedererkennen. Und dazu ein sprechender Stift, der in der Muttersprache Inhalte vermittelt.“ Die Technik kannte sie aus ihrer früheren Arbeit mit Kindern, die kein Deutsch sprachen. Warum also nicht für Senioren? „Das Prinzip ist dasselbe: Sprache, die berührt, Erinnerungen, die geweckt werden.“

So entstand „Meryems Erinnerungsbuch“. Der Name? Einfach schön, findet Maria Südholt. Das Buch zeigt liebevoll zusammengestellte Szenen: die Familie, Urlaubserinnerungen, ein geliebter Esel. Mit einem Tiptoi-ähnlichen Stift lassen sich die Bilder antippen – und eine türkische Stimme erzählt, was zu sehen ist. „Wenn die Kinder lachen, bist du glücklich“, sagt sie, oder: „Du bist gerne mit dem Zug gefahren.“ Alltagsbilder, die das Gefühl von Heimat und Geborgenheit vermitteln. Einfach, aber wirkungsvoll.

„Man kann natürlich auch andere Sprachen nehmen“, erklärt Maria Südholt. „Türkisch war für mich naheliegend, weil in meinem Umfeld viele ältere Menschen diese Sprache sprechen.“ Und das Schöne: Das Buch ist kein starres Produkt. Es lässt sich individuell gestalten – mit eigenen Fotos, eigenen Geschichten, eigenen Stimmen.

Dass Maria Südholt überhaupt noch einmal die Schulbank gedrückt hat, war keine Selbstverständlichkeit. Industriekauffrau ist sie, auch Erzieherin – alles mit Abschluss. „Ich wollte früher schon Altenpflegerin werden“, sagt sie. „Aber die Schule kostete damals Geld, und das konnten meine Eltern sich nicht leisten.“ Während der Corona-Zeit kam die Entscheidung: Jetzt oder nie. Die einjährige Ausbildung zur Pflegefachassistentin erschien ihr machbar. „Ich wollte nicht von der Schulbank direkt in Rente gehen“, erklärt sie. „Aber ein Jahr – das passt. Und jetzt schließt sich für mich ein Kreis.“

Ihre Erfahrungen im Altenheim haben sie geprägt. „Ich habe viele Jahre in einer Einrichtung gearbeitet, oft an Wochenenden.“ Dabei kam sie auch in Kontakt mit dementen Menschen. „Man muss sie nicht immer in unsere Realität holen“, ist der Standpunkt von Maria Südholt. „Wenn jemand sagt, es ist Montag, obwohl Freitag ist – was soll's? Es geht darum, sie dort abzuholen, wo sie sind.“ Besonders schwierig werde es, wenn Sprachbarrieren dazukommen. „Dann steht man manchmal hilflos daneben.“ Ihr Buch ist ein Gegenentwurf zur Hilflosigkeit – ein Werkzeug zum Verstehen.

Als das Projekt bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft eingereicht wurde, hatte Maria Südholt keine großen Erwartungen. „Ich dachte, es ist schön, dass ich es für mich nutzen kann – vielleicht mal im Heim. Dass es bundesweit Aufmerksamkeit bekommt, hätte ich nie gedacht.“ Doch genau das passierte. Unter 60 Einsendungen von 80 Schulen aus ganz Deutschland stach „Meryems Erinnerungsbuch“ hervor. Die Jury war beeindruckt: von der Idee und von der Umsetzbarkeit.

Der Lohn, der ihr am 11. Juli in einer Feierstunde im Caritas Bildungszentrum überreicht wurde: ein Pokal und 2.000 Euro Preisgeld – offiziell für die Schule, wie die Preisträgerin betont. „Ich wünsche mir, dass davon ein neuer Staubsauger angeschafft wird“, sagt sie schmunzelnd. Ein Teil des Geldes geht in die Abschlussfeier ihres Kurses. Und Maria Südholt selbst? Sie wird von der Schule noch einmal besonders gewürdigt. Einen Teil ihrer Aufmerksamkeit möchte sie außerdem einer Stiftung widmen, die ihr besonders am Herzen liegt: der Hans-Rosenthal-Stiftung. Hans Rosenthal, später als Fernsehmoderator bekannt, wurde als Jude von den Nazis verfolgt und war ständig auf der Flucht. „Ich finde es beeindruckend, wie Rosenthal sich trotz allem für Versöhnung eingesetzt hat – und gerade heute ist das wichtiger denn je.“

Maria Südholt kann sich gut vorstellen, das Projekt des Erinnerungsbuches weiterzuentwickeln. Mit Tierstimmen, mit Liedern aus der Kindheit, mit Geräuschen. „Ein Hahnenschrei, das Klappern von Hufen – das kann mehr auslösen als tausend Worte“, sagt sie. Auch Isabella Büsken, ihre Lehrerin, glaubt fest an das Potenzial. „Das Projekt schließt eine Lücke. Es gibt kaum Angebote zur Aktivierung für Menschen mit Demenz, die nicht deutsch sprechen. Und hier ist endlich ein Weg, der funktioniert – einfach und individuell.“